Kontrahierungszwang: Pflicht zur Vertragsannahme

Grundsätzlich steht es jedem Verbraucher frei, einen Vertrag mit einem Dritten abzuschließen oder diesen zu verweigern. Das gleiche Recht steht Versicherungen oder Unternehmen sowie jeder beteiligten Partei zu. Sie können sich die Vertragspartner frei auswählen. Allerdings ist dieses Recht nicht universell gültig, sondern unterliegt Einschränkungen. Verantwortlich dafür ist der sogenannte Kontrahierungszwang. In diesem Ausnahmefall besteht eine rechtliche Verpflichtung zum Vertragsschluss. Von dieser Regelung sind überwiegend Versicherungen betroffen, doch findet die Pflicht zur Vertragsannahme auch bei Banken oder innerhalb von Berufsständen oder -kammern Anwendung. Dieser Ratgeber informiert Sie ausführlich über den Kontrahierungszwang und klärt Sie über die Konsequenzen für Verbraucher auf.

Elisabeth Schwarzbauer

Autorin für Versicherungsthemen


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Zuletzt aktualisiert: April 27, 2023

Author Elisabeth Schwarzbauer

Elisabeth Schwarzbauer

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Elisabeth ist studierte Physikerin, verantwortet bei uns die Versicherungsthemen und hilft Ihnen Ihr bestes Angebot zu finden. Ihre Freizeit verbringt sie am liebsten mit Ihrer Familie oder mit einem Buch auf der Terrasse (wenn es das Wetter ermöglicht).

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Inhaltsverzeichnis
     

    Kontrahierungszwang kann schlicht als Abschlusszwang bzw. als auferlegte Pflicht zur Annahme eines Vertragsangebotes bezeichnet werden. Verkehrsbetriebe müssen beispielsweise grundsätzlich jedermann nach den Bedingungen des öffentlichen Tarifs befördern.

    Dabei hat ein Vertragspartner die gesetzliche Pflicht, den Vertrag abzuschließen. Somit gilt der Kontrahierungszwang als Ausnahme von der Vertragsfreiheit oder Abschlussfreiheit. Diese wird auch „Privatautonomie“ genannt. Denn nach dem Prinzip der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Artikel 2 des Grundgesetzes (GG) kann sich jeder Mensch in seiner Persönlichkeit frei entfalten. Die Freiheit jedes Einzelnen ist demnach unverletzlich.

    Übertragen auf das Vertragsrecht bedeutet das, dass in Deutschland Verträge selbstverantwortlich nach eigenem Willen abgeschlossen oder abgelehnt werden dürfen. Der Kontrahierungszwang steht somit im Gegensatz zur Privatautonomie. Er muss durch eine gesetzliche Regelung in Kraft gesetzt werden. Der Kontrahierungszwang spielt sowohl im Recht als auch in der Versicherungswirtschaft eine Rolle.

    Mittelbarer und unmittelbarer Kontrahierungszwang

    In der Praxis wird zwischen mittelbarem und unmittelbarem Kontrahierungszwang unterschieden:

    • Mittelbarer Kontrahierungszwang
      Von einem mittelbaren Kontrahierungszwang wird gesprochen, wenn die Pflicht zum Vertragsabschluss auf der Monopolstellung eines Unternehmens beruht. Solche Pflichten werden zum Beispiel öffentlich-rechtlichen Banken auferlegt, die ein sogenanntes „Jedermann-Konto“ anbieten müssen.
    • Unmittelbarer Kontrahierungszwang
      Der unmittelbare Kontrahierungszwang beruht auf einer gesetzlichen Regelung. Diese Form des Abschlusszwangs bezieht sich vorwiegend auf die Daseinsvorsorge und umfasst somit Versicherungen, Verkehrsbetriebe, Apotheken, Energieversorger oder die Post. Mit dem unmittelbaren Kontrahierungszwang möchte der Staat mit Hilfe einer gesetzlichen Regelung für ein sinnvolles und menschliches Leben sorgen.

    Gesetzliche Regelungen

    In der Versicherungswirtschaft wird der Kontrahierungszwang auf unterschiedliche Weise gesetzlich verordnet.

    1. Kfz-Versicherung: Mit Hilfe von Paragraph 5 des Pflichtversicherungsgesetzes (PflVG) wird der Kontrahierungszwang bei der Autoversicherung begründet und damit die Privatautonomie eingeschränkt.
    2. Gesetzliche Krankenversicherung: Gemäß Paragraph 5 sowie Paragraph 175, Absatz 1 des Sozialgesetzbuchs V (SGB V) müssen gesetzliche Krankenkassen (GKV) jeden Versicherten aufnehmen, der einen Aufnahmeantrag stellt.
    3. Private Krankenversicherung: Für private Krankenversicherungen ergibt sich aus Paragraph 193 Absatz 5 des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG) und Paragraph 12 Absatz 1b des Gesetzes über die Beaufsichtigung von Versicherungsunternehmen (VAG) der Kontrahierungszwang, Versicherte nicht abzulehnen und ihnen mindestens den sogenannten Basistarif anzubieten.

    Darüber hinaus findet sich der Kontrahierungszwang im Handelsgesetzbuch, in Sparkassengesetzen, im Erneuerbare-Energien-Gesetz sowie im Urhebergesetz. Dieser rechtliche Rahmen ist erforderlich, damit der Zwang zum Vertragsabschluss überhaupt das Recht auf Vertragsautonomie einschränken darf.

    Kontrahierungszwang für private Verbraucher

    Die Abschlusspflicht kann nicht nur für Unternehmen oder staatliche Einrichtungen gültig werden, sondern auch für Privatpersonen. Diese Form des Kontrahierungszwangs unterliegt jedoch ganz spezifischen und eng begrenzten Regelungen, die sich zum Beispiel in den AGB von Anbietern wiederfinden.

    Ein Beispiel für einen solchen Kontrahierungszwang sind Vorverträge bei Finanzierung oder beim Immobilienerwerb. So kann ein abgeschlossener Vorvertrag erfordern, dass der Vertragspartner nach einer Prüfung auch den Hauptvertrag unterscheibt.

    Kontrahierungszwang bei Versicherungen

    In der Versicherungswirtschaft findet der Kontrahierungszwang sehr häufig Anwendung. Im Folgenden finden Sie konkrete Beispiele.

    Gesetzliche Krankenversicherung (GKV)

    Die GKV ist verpflichtet, jeden Versicherten unabhängig von seiner finanziellen Leistungsfähigkeit und seiner Gesundheit aufzunehmen. Der Kontrahierungszwang geht zugleich einher mit der Versicherungspflicht, nach welcher jeder Bürger krankenversichert sein muss.

    Über die Pflicht zur Vertragsannahme hinaus ist die GKV nach dem Gesetzt nicht dazu berechtigt, ein Mitglied zu kündigen. Eine Ausnahme bilden hier freiwillig gesetzlich Versicherte. Sie können zum Beispiel bei ausbleibender Beitragszahlung nur in Notfällen behandelt werden. Gekündigt wird die Versicherung jedoch in der Regel nicht.

    Sonderfall Betriebskrankenkassen

    Die Aufnahme neuer Mitglieder bei Betriebskrankenkassen (BKK) ist oftmals auf eine Region, auf Branchen oder Berufszugehörigkeiten beschränkt. In diesem Fall wird von Krankenkassen ohne Öffnungsbeschluss gesprochen.

    Diese Betriebskrankenkassen dürfen keine anderen als in den Reglements vorgegebene Mitglieder aufnehmen. Sie sind nicht für alle Verbraucher geöffnet. Demnach greift hier der fehlende Öffnungsbeschluss vor dem Kontrahierungszwang. Anders ausgedrückt: Trotz Kontrahierungszwang sind Betriebskrankenkassen zuerst an den eigenen Umfang der Öffnung der Kasse gebunden.

    Demnach ist es den BKK trotz Versicherungspflicht nicht erlaubt, Mitglieder aufzunehmen, die nicht der geöffneten Region, Branche oder Berufe entsprechen.

    Private Krankenversicherung (PKV)

    Lange Zeit war der Kontrahierungszwang für private Krankenkassen nicht gegeben. Das änderte sich im Jahr 2007, als das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) in Kraft trat. Seither haben Versicherte die Möglichkeit, in ihre Versicherung zurückzukehren, in der sie zuletzt versichert waren. Die PKV ist demnach seit 2007 dazu verpflichtet, Rückkehrer wieder aufzunehmen.

    Seit dem 1.1.2009 müssen private Krankenkassen außerdem einen sogenannten „Basistarif“ anbieten, für welchen wie bei gesetzlichen Krankenkassen ein Kontrahierungszwang gilt.

    Kontrahierungszwang bei der Geburt eines Kindes

    Für Neugeborene besteht ein Kontrahierungszwang, wenn ein Elternteil privat krankenversichert ist. Die PKV muss das Kind ohne Gesundheitsprüfung, Risikoausschlüsse oder Leistungssauschlüsse aufnehmen. Darüber hinaus gilt bei dieser Form des Kontrahierungszwangs keine Wartezeit. Das Neugeborene ist demnach vom Tage der Geburt an voll leistungsberechtigt und krankenversichert.

    Folgende Voraussetzungen müssen für den Kontrahierungszwang in der PKV für Neugeborene gemäß Paragraph 198 des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG)  gegeben sein:

    • Ein Elternteil eines Neugeborenen war am Geburtstermin mindestens drei Monate privat krankenversichert
    • Der Versicherungsantrag für das Baby wurde spätestens zwei Monate nach der Geburt rückwirkend gestellt
    • Der gewählte Versicherungsumfang für das Kind ist nicht weitreichender als der Versicherungsschutz des Elternteils

    Weitere Annahmeverpflichtungen der PKV

    Die privaten Krankenkassen sind darüber hinaus verpflichtet, Beamtenanfänger und deren Angehörige aufzunehmen, ohne sie wegen gesundheitlicher Risiken abzulehnen. Dabei ist ein Risikozuschlag von maximal 30 Prozent zulässig. Diese Regelung gilt auch für Beamte, die von der GKV in die PKV wechseln wollen.

    Kfz- Haftpflichtversicherung

    Ebenso wie die Krankenversicherung gehört die Kfz-Haftpflichtversicherung zu den Pflichtversicherungen in Deutschland und Europa. Demnach besteht auch bei der Kfz-Versicherung ein Annahmezwang gemäß Paragraph 5 des Pflichtversicherungsgesetzes (PflVG).

    Die Versicherer müssen den Antragstellern den Mindestversicherungsschutz anbieten und dürfen ihnen einen solchen Vertrag nicht verweigern.

    Allerdings gibt es umfangreiche Ausnahmen, in welchen eine Kfz-Versicherung den Vertragsabschluss dennoch ablehnen darf:

    • Die Versicherung ist nur auf eine bestimmte Region oder Berufsgruppen beschränkt (sachliche Beschränkung).
    • Der Antragsteller erhielt bereits eine Kündigung von der Versicherung, weil er Beiträge nicht bezahlt hat.
    • Der Antragsteller hat seine vorvertraglichen Anzeigepflichten verletzt und zum Beispiel falsche Angaben im Aufnahmeantrag gemacht.
    • Der Versicherungsnehmer hat die erste Prämie nicht gezahlt und hat seinen Rücktritt vom Versicherungsantrag erklärt.
    • Das Versicherungsunternehmen hat dem Antragsteller bereits schon einmal die Versicherung aufgrund eines Leistungsfalls gekündigt.

    Ablehnung bei Kfz-Versicherung

    Wer eine Ablehnung von seiner Kfz-Versicherung erhält, sollte trotz Kontrahierungszwang prüfen, ob er die Voraussetzungen für eine Ablehnung erfüllt. Sind die Gründe triftig, besteht jedoch die Möglichkeit, bei einer anderen Kfz-Versicherung aufgenommen zu werden. Diese ist dann wiederum zur Aufnahme verpflichtet.

    Weitere Beispiel für Kontrahierungszwang

    • Berufsverbände
      Bestimmte Kammern für Ärzte oder Architekten haben feste Verträge mit Versicherungsunternehmen abgeschlossen. Demnach besteht ein Kontrahierungszwang für die Versicherungen, die Kammermitglieder automatisch versichern müssen.
    • Verkehrsbetriebe
      Öffentliche Verkehrsunternehmen sind zur Beförderung jedes Fahrgasts gesetzlich verpflichtet. Voraussetzung dafür ist, dass die gültigen Beförderungstarifregelungen erfüllt werden. In der Praxis bedeutet dies zum Beispiel, dass ein Linienbus einen Fahrgast mitnehmen muss, sobald der Fahrgast eine gültige Fahrkarte besitzt. Die Basis für diese Form des Kontrahierungszwangs bildet Paragraph 10 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes.
    • Energieversorger
      Gemäß Paragraph 17 des Energiewirtschaftsgesetzes (EnGW) sind Energieversorger dazu verpflichtet, Endverbraucher an das Versorgungsnetz anzuschließen. Dabei darf niemand diskriminiert werden. Zugleich müssen die Konditionen transparent und angemessen ausfallen. In diesem Fall wird meist vom „Basistarif“ für Strom oder Gas gesprochen.
    • Sparkassen
      In vielen Regionen sind Sparkassen gemäß den eigenen Gesetzen dazu verpflichtet, ihren Kunden ein sogenanntes „Jedermann-Konto“ anzubieten, das die Basisfunktionen des Zahlungsverkehrs kostenfrei abdeckt. Allgemein ist im Rahmen des Zahlungskontengesetzes vorgesehen, dass jeder Bürger das Recht auf ein eigenes Konto hat. Hierbei muss die Bank ein kostenloses Girokonto bereitstellen, auch wenn der Kontoinhaber keinen festen Wohnsitz hat. Betroffen von dieser Regelung sind neben Sparkassen auch Raiffeisen-Volksbanken. Damit wurde im Juni 2016 eine EU-Richtlinie umgesetzt.
    • Apotheken
      Apotheken sind gesetzlich dazu verpflichtet, ihren Kunden verschreibungspflichtige Medikamente innerhalb eines angemessenen Zeitraums zu verschaffen. Voraussetzung dafür ist ein gültiges, vom Arzt ausgestelltes Rezept. Ausgenommen von dietschser Regelung ist der Missbrauch von Medikamenten.

    Schadensersatz bei Verweigerung

    Wenn ein Vertragspartner trotz Kontrahierungszwang einen Vertragsabschluss verweigert, kann Paragraph 826 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) angewandt werden. Demnach wird die Verweigerung des Vertrags als „sittenwidrige vorsätzliche Schädigung“ ausgelegt.

    Der abgelehnte Vertragspartner wird somit zum Geschädigten, der Anspruch auf Schadensersatz hat. Der Schadensersatz erfolgt in Form der sogenannten „Naturalrestitution“. Damit wird der Schadensverursacher dazu verpflichtet, den Zustand wieder herzustellen, der ohne sein Handeln bestehen würde.

    Diese besonderen Umstände liegen vor allem beim mittelbaren Kontrahierungszwang vor, wenn ein Monopolist von staatlicher Seite zum Abschluss eines Vertrags gezwungen wird. So kann zum Beispiel die GEMA nicht ablehnen, Musiknutzern einen entsprechenden Lizenzvertrag anzubieten. Verweigert sie dem Vertragspartner das Recht, kann sie zu Schadensersatz und zusätzlich zur Vertragsannahme verpflichtet werden.

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